Sonntag, 20. März 2011

Bin ich es?




Wenn es eine Schuld gibt, warum kann sie von einem gekommen sein und durch einen aus der Welt genommen worden sein? 
Wir erleben doch tagtäglich Dinge, bei welchen ‚mensch’ sich
fragen kann: „Wer war da schuld? Hätte das nicht anders laufen können, wenn da jemand achtsamer gewesen wäre, sich mehr Zeit genommen hätte, frühzeitig auf Zeichen geachtet und schneller, langsamer, oder vorsichtiger gehandelt hätte?“ – kurz: „Wer ist für den entstandenen Schaden verantwortlich?“
Am Abendmahlstisch, der letzten Zusammenkunft des kleinen Kreises der Auserwählten der ersten christlichen Gemeinde, sagt Jesus: „Einer von euch wird mich verraten!“ Er weiß, dass er ausgeliefert wird und sich stellen muss, um alles zu retten – die gesamte Welt und deren Anschauung, genau diese Anschauung, von welcher ich zuvor schrieb: „Einer muss doch dafür verantwortlich sein, einer ist schuld, dass alles so gekommen ist…“
Und alle fragen erschreckt: „Bin ich es, Herr?“ 
In dieser kleinen Gruppe der Auserwählten am Abendmahlstisch hatte sich ein besonderes Bewusstsein entwickelt – ein Bewusstsein für Verantwortung. Sie wussten, das, was sie da zusammenführt, wird von der führenden Schicht im Volk und von der Besatzungsmacht als revolutionär angesehen, als gefährlich und staatsfeindlich! Und jetzt sagt Jesus, dass einer von ihnen den Anführer dieser Gruppe, Ihn, verraten wird. Jesus spricht scheinbar ein Misstrauen gegenüber seiner Gefolgschaft aus. Sie wissen, Er hat übersinnliche Kräfte und „sieht“ Dinge, die in nächster oder ferner Zukunft geschehen werden. Und sie sind über die Tatsache, dass die gesamte Unternehmung in Gefahr ist, erschrocken. Gerade sitzen sie noch in intimster Runde und spüren die Gemeinschaft, die Freude und Begeisterung und teilen die Kraft – sie haben zwar nicht ganz verstanden, was Jesus meinte, als Er sagte: „Das Brot, was ich jetzt hier herumreiche, das ist mein Leib , und der Kelch, den ich euch jetzt zum Trinken anbiete, das ist mein Blut.“, aber sie wähnen sich noch in Sicherheit in dem Raum, welchen Jesus ihnen gebot vorzubereiten. Da durchbricht Jesus plötzlich dieses Gefühl der Geborgenheit und sagt ihnen, was geschehen wird: Einer hat schon mit der Gegenseite gesprochen und sitzt mit dem Vorhaben am Tisch, Jesus zu verraten. Warum hat dieser das getan?
Nun, wie wir aus dem Zusammenhang wissen, hat Judas, wie viele andere Menschen seiner Zeit, geglaubt, der Messias sei gekommen, die politische Führung zu übernehmen, und würde zu einer Revolution aufrufen und deren Anführer werden. Jesus hat sich aber dagegen verwahrt. Er will die Gewaltfreiheit. Er will das Rad der Gewalt brechen. Dass das aus der Unterdrückung führen könnte, hat eigentlich keiner so recht geglaubt. Wir Menschen sind geprägt von der Angst vor dem Tod und unsere Taten und Erlebnisse zeugen eher davon, dass ein gewaltloser Weg in den Tod führt und uns nichts aber auch gar nichts davor bewahren kann. Wenn also schon sterben müssen, dann – bitteschön – der Andere vor mir! Diese „Haifisch-Mentatlität“ ist uns bis in unsere Zeit erhalten geblieben. Opfer? – Ja, aber bitte nicht mich!
Doch durch das, was Jesus im Angesicht des bevorstehenden Verrats tat – Er hätte ja auch wieder weglaufen können, in die Berge flüchten und sich verstecken können, kann kein anderer. Nein, dieser Mann spürt die Verantwortung und bleibt. Er stellt sich – stellvertretend für die gesamte Menschheit – gibt Er sich zum Opfer und was geschieht?
Pontius Pilatus wird sich die Hände waschen müssen, weil er das Gefühl hat, er mache sich die Hände schmutzig, wenn er diesen Mann verurteilt. Viele Menschen werden entdecken, dass ihr „kreuzige Ihn“ ihnen im Halse stecken bleiben wird und viele werden Zeugen einer barbarischen, scheinbar sinnlosen Hinrichtung eines Menschen, der offenbar nichts anderes getan hat, als uns allen die Augen zu öffnen für das, was Liebe sein könnte, wenn wir sie in unseren Herzen kultivieren würden.
Warum hat Jesus uns unsere eigene Ohnmacht gegenüber der Angst vor dem Tod so plastisch vor Augen geführt? Warum hat Gott in diesem Moment nicht mit einem Blitzschlag das Schlimmste verhindert?
Gibt es vielleicht doch eine Chance – und von dieser muss der Schöpfer doch wissen –, dass Menschen diese ungebändigte Angst, welche wir als Überlebenstrieb bezeichnen, anders als bisher erleben könnten?
Bei der Versuchung Jesu in der Wüste durch den Teufel wird geschildert, dass Jesus drei Situationen ausgeliefert gewesen sei. Die erste bezeichnet einen körperlichen Zustand, welchen wir Hunger nennen. Spätestens drei Tage nachdem ein Mensch keine feste Nahrung mehr zu sich genommen hat, verspürt er ein Gefühl, das wir Hunger nennen.
Jesus fastete 40 Tage – eine heilige Zahl, welche eine Zeitdauer größer als einen Monat darstellt. Damit wird ihm eine überaus große Durchhaltekraft zugeschrieben.
Was einen Menschen am Leben halten kann, ohne Brot zu essen, das legt der Schreiber dieser Geschichte Jesus durch die Antwort auf die Versuchung, welche der Teufel ihm nahe legt, in den Mund: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das aus dem Munde Gottes geht.“ Die Kraft des Wortes Gottes wird als eine Kraft geschildert, welche vor dem Hungertod schützen kann – zumindest 40 Tage.



“ Viele Mönche und Asketen haben diese Tatsache nachgewiesen, indem sie diese Zeitdauer hindurch fasteten. Unser Körper ist also, bei gewissem Training, in der Lage, eine solche Zeit durchzuhalten, ohne Schaden zu nehmen. In der Nachfolge Jesu haben sie dieser in der Bibel festgehaltenen Erkenntnis vertraut und haben diese Entdeckung gemacht: Das Wort Gottes hilft, Hunger durchzuhalten. 
Auch auf die zweite Situation, in welcher der Teufel Jesus dazu anregt, sein Leben für einen Versuch aufs Spiel zu setzen, ob sein Schutzengel ihm wohl helfen werde, lässt Jesus sich nicht ein und antwortet dem Teufel wiederum mit einer Bibelstelle. In dieser Situation sehe ich den Gefühlsbereich des Menschen angesprochen.
Wenn es darum geht, Gefühle in die Tat umzusetzen, ist der Wille Gottes und das Zwiegespräch mit IHM meines Erachtens das wichtige Kriterium, um eine adäquate Handlung zu erreichen.
Jesu „Coolness“, wie wir heute sagen würden, ist in seiner Situation die einzig rettende Maßnahme. Ich weiß, dass durch Fasten eine körperlich- geistige Verfassung entstehen kann, die klares Denken unmöglich macht und der Mensch sich in einer Art Wahnzustand oder Rausch wiederfindet. Ich kenne auch einige Fälle von Rauschmittelmissbrauch, in welchen sich die Betroffenen aus dem Fenster oder von einer Brücke gestürzt haben in dem Wahn, sie könnten fliegen! Zu ähnlichen Handlungen führt der Drang eines Menschen, der sich völlig von Verzweiflung, Schmerz und Wut eingekreist fühlt und Selbstmordabsichten in sich aufkeimen sieht. Die einzige Macht, welche er scheinbar noch hat, das einzige Recht, worüber er noch bestimmen könnte, ist, aus diesem Leben zu gehen, welches er als unwert erkannt hat.
In diese Situation hinein spricht Jesus das Wort: „Du sollst Gott, deinen Herrn nicht versuchen!“ Das heißt für mich: Es gibt keine Bedrängnis, in welcher Gott nicht an meiner Seite wäre; aber ich darf diese Bedrängnis nicht selbst schaffen. Sobald ich an meiner Situation selbst schuld bin, wird es für mich schwierig zu glauben, dass mir da noch irgendjemand heraushelfen könnte. Es sei denn, ich hätte schon einmal gesehen, dass das jemand überlebt hat und es sei nötig und sinnvoll, den Schritt in eine ähnlich bedrohte Situation zu tun.
Jesus stellt sich – nach dem Abendmahl – und zeigt durch sein Opfer, wozu der Selbsterhaltungstrieb geschaffen wurde: Nicht dazu, um andere zu unterdrücken, ja sie zu töten, oder zu verletzen, ja nicht einmal, um sie mundtot zu machen. Gefühle sind wohl dazu da, auszudrücken, was mich bewegt. Aber, wenn ich meine Gefühle als wichtiger erachte, als die, welche mein Nächster hat und ausdrücken möchte, begehe ich einen großen Fehler. Jesus, dem nichts wichtiger war, als Ausgestoßene und Menschen, die durch Krankheit oder Behinderung außerhalb der damaligen Gesellschaft standen, wieder in die Gemeinschaft einzugliedern, begibt sich am Ende stellvertretend für alle Menschen an diesen Posten und leidet Spott, Hohn und Verdammnis bis hin zu seinem Tod. Damit überwindet er den wohl größten Schmerz – das Alleinsein, das Gefühl des Getrenntseins von allem, was Menschen untereinander und mit Gott und der Schöpfung verbindet. Die Kreuzigung überhöht die Versuchung des Teufels in der heiligen Stadt, sich von einem Turm zu stürzen und macht dieses Ansinnen, sich einer Sensation hinzugeben, zu einer Farce gegenüber dem, was Jesus letztendlich als Weg nimmt.
Steckt in uns Menschen in der Nachfolge Jesu nicht doch so etwas wie Selbstbeherrschung?
Gott unser Herr und Schöpfer – lass uns doch dieser Kraft wieder näher kommen!
Damit ist aber noch nicht alles gesagt und die dritte noch anstehende Situation, die Anbetung und Vergötterung dessen, der sich der Leibhaftige nennt, ist noch nicht angesprochen worden.
Eine Verantwortung, wie Jesus sie übernommen hat, kann kein Mensch, wie ich glaube, übernehmen. Es sei denn, Jesus selbst würde diesem Menschen diese Bürde, wie Ehre gewähren. Bin ich es? – bin ich es, der nicht verstanden hat, was Jesus wollte und was Er vollbracht hat? Bin ich der Verräter, der immer noch auf Gewalt und Veränderung durch gewaltige Eingriffe setzt?
Kann ich begreifen, wie weitreichend Sein Vorbild und Tun war, ist und bleiben wird? Werde ich jemals solchen Versuchungen, wie Jesus ihnen ausgesetzt war, standhalten können? Habe ich nicht schon x-mal gegen Sein Gesetz der Liebe verstoßen? Kann ich glauben, dass ich trotz allem ein geliebtes Kind Gottes bin?
Die Kraft, auf all das, was ich sehe, höre und spüre verzichten zu können, und weiter daran zu denken, dass Gott mich nicht als Herrscher, der anzubeten wäre, sondern als Diener in diesen
Garten Eden eingesetzt hat, diese Kraft kann mir nur aus der Tradition erwachsen, welche mit Jesus begonnen hat.
Verrat an Jesus, Verrat an der Schöpfung, Verrat an dem Auftrag, diese Welt zu bebauen und zu pflegen begehe ich in dem Moment, in welchem ich vergesse, dass ich „nur“ Geschöpf, ein Mensch bin und „nur“ zu menschlichen Regungen fähig.
Schuld erkennen – Schuld bereuen, von Gott lernen, zu verzeihen – so heißt es in dem Lied „Zärtlich wachsen“. Mit diesem Maßstab im „Hinterkopf“, denke ich, ist es nicht mehr so leicht, zu erschrecken, wenn Jesus sagt: Einer von euch wird mich verraten. Und ein jeder von uns wird eines Tages ohne Angst fragen können: „Bin ich es gewesen?“.
Der Dienst auf dieser Welt wird enden und wir werden uns alle wiederfinden – wie die Träumenden –  am Tisch des HERRN. 
       Amen

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